Die NZZ hat am 10.1.2025 einen lesenswerten Gastkommentar von Margit Osterloh publiziert. Was mich an diesem Kommentar stutzig machte, war die Aussage, dass Mädchen und Frauen wettbewerbsavers seien. Auf den ersten Blick scheint diese Aussage nachvollziehbar und überzeugend. Auf den zweiten Blick riecht sie gefährlich nach einem Stereotyp. Tatsächlich gibt es anekdotischen Evidenz, welche gegen diese Aussage sprechen.
Ich habe von Mittelstufenlehrerinnen gehört, welche im Sportunterricht bei den Mädchen, welche sie in der 4. Klasse neu bekommen, ein typisches «wettbewerbsaverses» Verhalten beobachten. Beim Ballspiel wenden sich die Mädchen vom Ball weg, statt dass sie in Fangposition gehen. Fangens sie selten genug einmal einen Ball, reichen sie diesen den bei ihnen stehenden Buben weiter, statt dass sie selbst etwas mit dem Ball anfangen. Die Lehrerin, eine sportliche und wettkampfstarke Frau, interveniert in solchen Fällen umgehend und zeigt den Mädchen, wie sie sich stattdessen sportlich einbringen können. Nach spätestens sechs Monaten, so die Auskunft der Lehrerin, hätten die Mädchen jeweils mit den Knaben an Wettkampfstäke gleichgezogen. Wie die Lehrerin weiter berichtet, würden die Klassen in Ballspielen danach häufig Mädchen gegen Buben spielen. Dies auf Wunsch sowohl von den Mädchen wie von den Buben, speziell auch, wenn die Mädchenmannschaften die Spiele gewännen (was oft genug geschieht).
Aufgrund solcher Erfahrungen habe ich die Vermutung, ein wahrgenommenes wettbewerbsaverses Verhalten der Mädchen ist eher eine Folge des Vorbilds, welches die Lehrerinnen darstellen, als ein genuin geschlechtertypisches Verhalten. Das wiederum würde gewisse Fragen aufwerfen bezüglicher der Ausbildung der Lehrerinnen. Beispielsweise, ob die pädagogischen Hochschulen eine Ausbildung betreiben, welche (unbemerkt) Geschlechterstereotypen bestärkt oder ob die ausgebildeten Lehrerinnen (und Lehrer) in der Lage sind, das Potential der Kinder unabhängig ihres Geschlechts zu fördern.