Der geborene Aussenseiter

05. May 2014, ... alles andere, aktion-hip, No Comments »

Asperger in unserer Gesellschaft

Personen mit Asperger-Syndrom bewegen sich in der Gesellschaft als hätten sie eine Tarnkappe übergestülpt bekommen. Sie fallen nicht auf und finden keine Beachtung. Eine solche Unsichtbarkeit kann viele Formen annehmen, wie folgende Beispiele zeigen.

Ein Asperger war in einem Verband engagiert und regte in Rahmen seines Engagements einen Weiterbildungskurs für die Verbandsmitglieder an. Weil ihn das Thema auch selbst interessierte, übernahm er die Organisation dieses Kurses. Als Kursverantwortlicher kontaktierte er die Referenten, organisierte das Kurslokal, gestaltete die Kursausschreibung und verwaltete die Anmeldungen. Am letzten Kurstag verdankte ein anderes Verbandsmitglied den Referenten, welcher den Dank artig weitergab an die Institutionen, welche die Veranstaltung sponserten. Weil die Kursmitglieder mit dem Kurs zufrieden waren, stimmte sie in den Dank ein, so dass reihum Dankesbekundungen verteilt wurden. Bloss eine Person blieb bei diesen Verdankungen unerwähnt: der Asperger, welcher den Kurs initiiert und organisiert hatte.

In einem anderen Fall wurde eine Person mit Asperger zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Weil die einladende Person einen grossen Freundeskreis hatte, kamen viele Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zusammen. Um den Austausch zwischen den Gästen zu erleichtern, stellte der Jubilar in seiner Ansprache reihum alle Gäste vor und erzählte über seinen Bezug zur jeweiligen Person. Eine Person ging allerdings bei dieser Vorstellungsrunde vergessen: es war der Gast mit Asperger-Syndrom.

Aufmerksamkeits-Defizit

Wie kommt es, dass Personen mit Asperger-Syndrom immer wieder erfahren müssen, bloss als second class citizens wahrgenommen zu werden?

Einerseits liegt das am Erscheinungsbild und Kommunikationsverhalten von Menschen mit Asperger. Neurotypische (d.h. normale) Menschen erwidern oder spiegeln unwillkürlich die Körperhaltung und das Verhalten ihres Gegenübers. Auf diese Weise schwingen sich die Gesprächspartner gleichsam auf die Stimmung ihres Gegenübers ein. Mit der Körperhaltung signalisieren die Gesprächspartner Einverständnis oder Unverständnis, worauf das Gegenüber je nachdem weiterfahren oder nachklären kann. Wenn der Hörer die Körperhaltung des Senders aufnimmt, kann er zusätzlich den Gesprächsakt nachstellen, was ihm hilft, die vom Sender übermittelte Information nachzuvollziehen. In einem anregenden Gespräch, in welchem der inhaltlich Austausch wirkungsvoll durch den non-verbalen Kanal unterstützt wird, können sich die Gesprächspartner vollständig in den Austausch vertiefen und die Atmosphäre um sich herum vergessen. Je intensiver der Austausch gepflegt wurde, desto tiefer gräbt er sich im Gedächtnis ein.

Ganz anders die Interaktion mit einem Asperger. Hier ist der non-verbale Kanal gestört. Der Körper des Aspergers schwingt nicht auf der Wellenlänge seines Gesprächspartners. Eine leichte Änderung der Mimik oder der Körperhaltung bleibt ohne Wirkung beim Asperger. Der neurotypische Gesprächspartner wiederum nimmt keine non-verbalen Signale des Aspergers wahr, weil keine ausgesendet worden sind. Er legt diesen Kanal entweder still oder richtet ihn anders aus. Sein Blick schweift wie derjenige des Asperger-Gesprächspartners ab. Mit dem Blick schweift auch die Aufmerksamkeit ab, das Gespräch wird überlagert durch atmosphärische Eindrücke. Entsprechend schwach setzt sich eine solche Interaktion im Gedächtnis der Personen fest.

Authentizität

Nicht nur körperlich schwingen Asperger schlechter mit, auch inhaltlich bewegen sie sich oft in einem Bereich am Rand des Spektrums, welches von ihrem Kollegenkreis akzeptiert wird. Dies hat seinen Grund in einem anderen Charaktermerkmal von Asperger. Personen mit Asperger sind überdurchschnittlich genau und kritisch, auch sich selbst gegenüber. Diese Besonderheit äussert sich beispielswiese darin, dass Asperger leichtfertig geäusserte und als Wahrheiten hingestellte Behauptungen nicht einfach hinnehmen wollen, sondern diese skeptisch hinterfragen. Was im intellektuellen Diskurs als Verhalten von mündigen und selbstbewussten Bürgern gelobt wird, wird in der Peergruppe als trölerisches Verhalten abgelehnt.

Im geschäftlichen Alltag führt dieses Verhaltensmerkmal von Asperger weniger zu Problemen, im Gegenteil. Wenn es um technische und methodische Fragen geht, ist die Sorgfalt von Personen mit Asperger wertvoll und wird geschätzt.

Im kollegialen Umfeld, an einem Stammtisch beispielsweise, wo nicht geschäftliche und fachliche Fragen, sondern gesellschaftliche Themen verhandelt werden, kann ein Asperger mit seinem Insistieren Irritationen auslösen. Diskussionen im Freundeskreis sind meist mit grundlegenden ideologischen Haltungen unterlegt, zu Glaube, Gerechtigkeit oder Freiheit beispielsweise. Für den Zusammenhalt und das Zusammenspiel einer Peergruppe ist entscheidend, dass ein grundsätzlicher Konsens über deren ideologische Ausrichtung besteht. Wie alle Menschen auch wird sich der Asperger eine Peergruppe suchen, in welcher er sich bezüglich seiner ideologischen Einstellungen wohlfühlt, in welcher er sich aufgehoben und akzeptiert sieht. Doch während normale Menschen ihre Einbindung in der Peergruppe über Jahre aufrechterhalten können, ist diese Einbindung bei Asperger vielfach gefährdet. Die mangelnde Fähigkeit von Personen mit Asperger, die Stimmungen in der Gruppe wahrzunehmen, und mehr noch ihre Bereitschaft, die grundlegenden Annahmen des Gruppenkonsenses in Frage zu stellen und ihre eigenen Ansichten aufgrund von neuen Erkenntnissen anzupassen, wird den Asperger früher oder später in Konflikt mit seinem Kollegenkreis bringen.

Die Schwierigkeiten, die ein Asperger in einer Peergruppe hat und verursacht, hat nichts mit böser Absicht zu tun. Der Grund für solche Schwierigkeiten ist vielmehr, dass sich der Asperger, was seine Ansichten betrifft, asynchron zur akzeptierten Meinung in der Gruppe entwickelt. Wo die Gruppenmeinung modischen Schwankungen folgt, wird der Asperger auf seiner Meinung beharren, solange er sie als fundiert erachtet. Wo die Gruppe eingespielte Argumentationen hochhält, auch wenn diese auf Annahmen beruhen, welche nicht mehr länger aufrechterhalten werden können, so wird der Asperger ungerührt ideologischen Ballast über Bord werfen, sobald diese seinen neuen Erkenntnissen widersprechen. Wo die Gruppenmitglieder bereit sind, grosse Widersprüche zwischen ihren postulierten Haltungen und ihrem Verhalten hinzunehme, wo sie bereitwillig Meinungen äussern, welche ihren konkreten Erfahrungen offensichtlich widersprechen, wird der Asperger versuchen, ein möglichst konsistentes Bild der Welt zu entwerfen und umzusetzen. Die eigentümliche Interpretation von Wahrheit und Authentizität, welche für Asperger typisch ist, macht sie zwangsläufig zu potentiellen Störenfriede und Aussenseiter in der Gruppe, denn unglücklicherweise sind die meisten Menschen mehr an Beziehungen als an Wahrhaftigkeit interessiert.

Es ist deshalb nicht Boshaftigkeit oder Geringschätzung, wenn der Asperger bei der Vorstellungsrunden vergessen wird. Ein solcher Vorfall ist vielmehr Ausdruck davon, dass sich der Asperger auf eigene Art entwickelt hat. Er passt nicht mehr zu den Vorstellungen, die man früher von ihm hatte, aber er entwickelte sich auch nicht auf typische Art. Er ist auf eine Art anders geworden, auf welche keine Etikette passt. Wo eine Person nur noch für sich steht und nicht mehr mit einer Gruppe oder einer Marke in Verbindung gebracht werden kann, besteht Gefahr, dass diese Person vergessen geht.

Leben im Schatten

Asperger erregen nur dann Aufmerksamkeit, wenn sie über eine Inselbegabung verfügen, welche ins Auge sticht. In Normalfall erregen Asperger wenig Aufmerksamkeit, und so erhalten sie auch wenig Anteilnahme. Dieser Mechanismus hat einschneidende Konsequenzen für die Asperger in unserer Gesellschaft.

Wenn wir die Selektionsmechanismen betrachten, welche den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg steuern, so erkennen wir, dass Personen mit Asperger systematisch benachteiligt werden. Würden solche Mechanismen einzig auf Talent und Leistung beruhen, wäre die Welt für Asperger in Ordnung. Beim Aufmerksamkeitswettbewerb, welcher ebenso wichtig ist, haben die Asperger allerdings schlechte Karten. Weil sie diesen Faktor nicht richtig einzuschätzen vermögen, verpassen sie leichtfertig die ersten Beförderungschancen. Mit zunehmender Zeit wird der Umstand, dass sie nicht oder nur langsam vorwärts kommen, als Indiz gewertet, dass sie für weiterführenden Aufgaben nur schlecht geeignet sind. So bleiben Asperger oft auf Positionen stecken, auf welchen sie ihr Können nur schlecht entfalten können.

Was ist zu tun mit Asperger in unserer Gesellschaft? Asperger-Personen sind wie verborgene Perlen. Mit ihrem Fachwissen stellen sie ein Potential dar, welches in vielen Fällen brachliegt, weil es nicht beachtet wird. Mit ihrer Authentizität wären sie fähig, Zusammenhänge in einer Firma oder der Gesellschaft auf eine Art darzustellen, welche frei von gesellschaftlichen Rücksichtnahmen und falschen Versprechungen ist. Das ist nicht immer nett, aber ehrlich und häufig notwendig. Asperger sind stark darin, eine andere Meinung einzubringen. Wo Meinungsvielfalt angestrebt wird, in Führungsgremien beispielsweise, könnte die Meinung eines Aspergers bereichernd sein.

Das Bewusstsein, dass Personen mit Asperger ein schlummerndes Potential darstellen, scheint langsam in der Gesellschaft Fuss zu fassen. So sind im Informatikbereich Firmen entstanden (z.B. Specialisterne oder Asperger-Informatik), welche gezielt Software-Spezialisten mit Asperger-Syndrom rekrutieren. Sie rechnen sich aus, mit Arbeitsplätzen, welche gezielt auf die Bedürfnisse solcher Mitarbeiter zugeschnitten sind, einen Wettbewerbsvorteil erzielen zu können, der es ihnen erlaubt, ihre Dienstleistungen gewinnbringend anzubieten.

Diese Firmen versuchen, das Potential von Asperger zu nutzen, indem sie Asperger-Personen auf dem Arbeitsmarkt suchen. Das kann hilfreich sein für Personen mit Asperger, welche in solchen Firmen den Einstieg in die Arbeitswelt oder über einen Stellenwechsel beruflich vorwärts kommen. Gefragt wären allerdings auch Scouts, welche das Potential von Asperger-Personen innerhalb eines Unternehmens aufspüren und die fähig sind, dieses Potential zum Vorteil des jeweiligen Unternehmens zu fördern.

Asperger-Personen brauchen nicht mehr Aufmerksamkeit als andere Personen. Aber weil sie weniger Aufmerksamkeit erregen, bekommen sie weniger davon. Das ist so folgerichtig wie unglücklich. Mitleid ist kein Mittel, um Asperger-Personen gerecht zu werden. Was Menschen mit Asperger hilft ist Anteilnahme in Form von bewusster Aufmerksamkeit. Asperger sind Aussenseiter, die nicht am Rand der Gesellschaft stehen. Das kann sie zu Einsichten führen, welche anstossen und verunsichern. Solche Irritationen können durch ein als unsensibel empfundenes Verhalten der Asperger verstärkt werden. In einer Situation dieser Art reagieren die Betroffenen üblicherweise, indem sie sich abwenden. Eine solcher Reaktion ist allerdings für beide Seiten ein Schaden. Statt dessen sollte die betroffene Person neugierig bleiben und nachfragen, warum und wie der Asperger zu seinen Ansichten gelangt ist. Für die Beziehung mit Aspergern gilt: Explizit ist besser als implizit. Asperger zwingen ihr Umfeld zu einem erhöhten Mass an Offenheit. Das ist der Preis, welcher das gesellschaftliche Umfeld zu zahlen hat, will es Asperger und deren Potential aus dem Schatten holen.


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