Ãœberwachungskapitalismus und Ãœberwachungsstaat sind nicht gleichrangig

10. October 2019, liberal, aktion-hip, No Comments »

Leserbrief zum NZZ-Artikel “Der perfekte Albtraum – wenn Ãœberwachungskapitalismus und Ãœberwachungsstaat zusammenwachsen” von Eric Gujer (NZZ vom 20.9.2019).

In seinem Artikel geht Eric Gujer ausführlich auf die Gefahren der Überwachung durch das Internet und die künstliche Intelligenz ein. Mich irritiert an diesen Betrachtungen, dass die Machenschaften der Internet-Konzerne aus dem Silicon Valley (Überwachungskapitalismus) in gleicher Reihe aufgeführt werden wie die geplante Totalüberwachung der chinesischen Regierung (Überwachungsstaat), z.B. durch das Social-Scoring-System. Hier scheint eine eigenartige Marotte liberaler Kreise zum Ausdruck zu kommen, dass man die chinesische Überwachung nicht kritisieren darf, wenn man nicht zuvor die Silicon-Valley-Firmen kritisch hinterfragt hat.

Für mich geht es hier um zwei völlig unterschiedliche Sachen, auch wenn die gleichen Mittel eingesetzt werden. Während das Ziel des Überwachungskapitalismus’ die «präzise auf die Bedürfnisse der User zugeschnittener Werbung» ist (Nebenbemerkung: ich sehe viel Werbung, aber äusserst selten solche, die präzise auf meine Bedürfnisse zugeschnitten ist), geht es beim modernen Überwachungsstaat um eine Verhaltensanpassung eines Grossteils seiner Bevölkerung.

Als Mitglieder einer Gesellschaft möchten wir alle, dass sich die Anderen gesellschaftlich konform verhalten, dass sie sich gesellschaftsverträglich aufführen. In freien Gesellschaften vertrauen wir darauf, dass die Gesellschaftsmitglieder dieses Verhalten während der Erziehung, unterstützt durch ihr soziales Umfeld, selbst erlernen. Als Resultat dieses Prozesses haben sie ein eigenes Verständnis von sozialer Verträglichkeit. Beim Projekt der chinesischen Regierung dürfte es mit Sicherheit um etwas ganz Anderes gehen. Das Verhalten, welches die chinesische Regierung erzwingen will, dürfte ziemlich weit von dem Verhalten entfernt sein, mit welchem wir uns wohl und frei fühlen. Und es dürfte auch ziemlich weit von den Standards entfernt sein, welche mit der Charta der Menschenrechte angestrebt werden.


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