10 Likes – und jetzt?

13. March 2020, liberal, aktion-hip, No Comments »

Vor einigen Jahren erregte eine wissenschaftliche Studie grosse Aufmerksamkeit in den Medien. Mit 10 Facebook-Likes, so die populärwissenschaftliche Aussage, könne ein Computer eine Person besser kennen als ein Kollege, mit 70 Likes besser als ein Freund, mit 150 Likes besser als ein Familienmitglied und mit 300 Likes besser als der Partner.

Diese Meldung erhitzte die Gemüter. Die Gefahr des gläsernen Menschen schien Realität geworden. Doch auf welcher Grundlage basierte diese Meldung?

Anlass war eine 2015 veröffentlichte Studie. Diese erforschte, wie akkurat die im Internet vorhandenen Spuren dazu verwendet werden können, ein Persönlichkeitsprofil der jeweiligen Person zu erstellen. Für ihre Untersuchung verwendeten die Wissenschaftler das bekannte Big-Five-Modell (Offenheit für Erfahrungen, emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Extravertiertheit).

Konkret legten die an der Studie beteiligten Personen (mehr als 86’000 Studienteilnehmer) einen Persönlichkeitstest ab. In einer zweiten Runde wurden deren Facebook-Freunde gebeten, einen ähnlichen, aber kürzeren Persönlichkeitstest über die Studienteilnehmer abzulegen. Die Wissenschaftler konnten nun vergleichen, wie präzis das Bild, welches die Facebook-Freunde von den Studienteilnehmern hatten, mit dem Persönlichkeitsbild der Studienteilnehmer übereinstimmten. In einer dritten Runde analysierten die Wissenschaftler die Likes der Studienteilnehmer mit Big-Data-Methoden und erstellten damit ebenfalls ein Persönlichkeitsbild der Studienteilnehmer.

Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler zeigen, dass ihr auf Facebook-Likes basierendes Persönlichkeitsbild umso besser wird, das heisst umso näher beim eigenen Persönlichkeitsbild der Studienteilnehmer liegt, je mehr Likes für das Datenmodell zur Verfügung standen. Weiter konnten sie zeigen, dass sie schon mit wenigen Likes ein Persönlichkeitsbild erzeugen können, welches besser mit demjenigen der Studienteilnehmer übereinstimmt als jenes ihrer Facebook-Freunde. Insbesondere konnten die Wissenschaftler die knackigen Zahlen präsentieren, welche zur eingangs erwähnten Aussage verkürzt werden konnten: Mit 10 Likes könnten sie ein genaueres Persönlichkeitsbild erstellen als Kollegen, mit 300 Likes seien sie genauer als der Partner.

Das Big-Five-Modell erlebt nicht nur in der Psychologie eine langanhaltende Karriere, auch in der PR-Branche ist es zu einem festen Begriff geworden. Eine Werbefirma strahlt Seriosität aus, wenn es ihr gelingt, ihre Marketing-Dienste wissenschaftlich zu verbrämen. Zu diesem Zweck kommt das Big-Five-Modell wie gerufen. Alle wissen ungefähr, um was es sich dabei handelt. Wenn nun eine PR-Agentur behauptet, ihre Marketing-Strategien basierten auf dem Big-Five-Modell, dann wirkt ihr Versprechen, präzise auf die Bedürfnisse der User zugeschnittener Werbung schalten zu können, einiges überzeugender.

Massgeschneiderte Werbung?

Ich halte das Aufsehen, welche die Studie über die Facebook-Likes erregte, für das Resultat eines gelungenen PR-Gags. Facebook dürfte definitiv Freude gehabt haben, sowohl über die Studie und die Aufmerksamkeit, welche diese erzeugte. Doch wie gut kenne ich eine Person, wenn ich deren Extravertiertheit oder emotionale Stabilität kenne? Und wie gut kann ich einer solchermassen bekannten Person mein Produkt verkaufen?

Mit Sicherheit hinterlässt jedermann Spuren im Internet und mit Sicherheit können diese Spuren ausgewertet und zu interessanten Resultaten verarbeitet werden. Allerdings bezweifle ich die Relevanz dieser Resultate. Ich glaube nicht, dass meine Spuren im Internet es einem Datensammler erlauben, ein auch nur annähernd präzises Bild über mein Verhalten, meine Wünsche und meine Schwächen zu entwerfen. Was ich an sogenannt personalisierter Werbung im Internet erlebe, ist das Resultat mehr oder weniger begründetet Vermutungen und weit entfernt davon, präzise auf meine Bedürfnisse zugeschnitten zu sein.

Wenn wir von Datensammlungen reden, dann ist nicht immer klar, von welchen Datenbanken wir sprechen. Je nach Kontext sind das ganz unterschiedliche Datensammlungen. Ist es der riesige Datentopf, den Suchmaschinen- und Plattform-Betreiber anlegen und mit unseren Spuren im Internet füllen? Sind es die Datensammlungen, welche die Detailhandelsketten mit Hilfe der Bonuskarten von ihren Kunden anlegen? Sind es die Bildersammlungen aus den Überwachungskameras in den Einkaufzentren? Sind es die Einwohnerdaten, welche die Behörden über uns anlegen? Sind es die Datenbanken, in welchen die Bussen und Straftaten gespeichert sind, welche wir begangen haben?

In westlichen Gesellschaften können wir mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese unterschiedlichen Datensammlungen unterschiedlich bleiben. Sowohl der Wettbewerb zwischen den Firmen wie auch die Datenschutzgesetzte verhindern, dass diese verschiedenen Datenbestände zu einer zentralen Datenbank zusammengeführt werden. Facebook wird nie seine Daten mit Google teilen, weil Google in einem solchen Fall bessere Werbung machen könnte (oder dies zumindest versprechen könnte) und damit das Geschäftsmodell von Facebook torpediert würde.

Wenn es um Werbung geht, dann geht es im schlimmsten Fall um Verführung, um Manipulation. Die Marketingabteilung einer Firma will mich mit ihrer Werbung dazu verleiten, ihr Produkt zu kaufen. Möglicherweise habe ich schon die Absicht, ein Produkt diese Art zu kaufen. In diesem Fall macht mir die Werbung einen bestimmten Anbieter schmackhaft. Vielleicht verleitet mich eine Werbung zum Kauf eines Produkts, welches ich eigentlich gar nicht zu kaufen vorhatte. Möglicherweise bereue ich später den Kauf aus diesem Affekt. In jedem Fall bin ich selber schuld, wenn ich ein Produkt kaufe, bloss, weil es raffiniert beworben wurde. Der Werbetreiber kann mich nicht zwingen, ein Produkt zu kaufen.

Zwang statt Verführung

Damit sind wir beim zentralen Kriterium angekommen, dem Zwang. Bei den Datensammlungen von Google, Facebook und Co geht es um Werbung und damit schlimmstenfalls um Manipulation, nie aber um Zwang. Bei Datenbanken in den Händen von Staaten verhält es sich anders. Der Staat hat Zwangsmittel zur Verfügung. Wenn staatliche Behörden bei der Bevölkerung ein gewisses Verhalten erreichen wollen, dann setzen sie in der ersten Runde möglicherweise auch auf Verführung. Führt das nicht zum gewünschten Ergebnis, erhält ein präzise abgegrenzter Teil der Bevölkerung einen massgeschneiderten «Stupser». Sollte auch das nicht ausreichen, ist der Griff zu härteren Massnahmen, zu offenem Zwang, nicht weit. Die gesammelten Daten machen es möglich, dass solche Massnahmen nicht flächendeckend, sondern sehr präzise angewendet werden können. Das fördert die Akzeptanz dieser Massnahmen: über deren Ziel herrscht ein breiter Konsens, betroffen ist jeweils nur ein kleiner Teil der Bevölkerung.

Es ist nicht die Grösse der Datensammlungen und auch nicht die Raffinesse der Technologie, welche zum Auswerten dieser Daten eingesetzt wird, es ist der Zwang, welcher den Unterschied ausmacht. Der von den Silicon Valley-Firmen betriebene «Überwachungskapitalismus» stellt eine geringfügigere Bedrohungslage dar als der beispielsweise von China betriebene «Überwachungstotalitarismus».

Es mag ein ungutes Gefühl bereiten, wenn man durch ein Inserat auf einer beliebigen Webseite an den Suchbegriff erinnert wird, welchen man vor einigen Tagen in der Suchmaschine eingegeben hat. Das Gefühl, beim Surfen im Netz einen Beobachter im Nacken zu haben, ist alles andere als angenehm. Trotzdem, die wirkliche Bedrohung kommt von den Datensammlungen, welche der Staat über seine Bürger anlegt. Ihr müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Und hier müssen wir mit griffigen Datenschutzgesetzen sicherstellen, dass der Staat seine vielen Datenbanken nicht beliebig verknüpfen kann.


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