Starke Lehrerinnen machen starke Frauen

22. November 2020, ... alles andere, liberal, Wettbewerb, aktion-hip, No Comments »

Frauen sind in Führungspositionen untervertreten. Frauen sind auch in MINT-Fächern untervertreten. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Eine Änderung mit Hilfe von positiver Diskriminierung erzwingen zu wollen, erscheint nicht sinnvoll. Stattdessen braucht es Lehrerinnen, welche ihren Schülerinnen zeigen, wie man mit Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen seine Ziele erreichen kann.

Frauen sind in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) stark untervertreten. Die Klage über diese Tatsache ist weit verbreitet. Sind Frauen, genetisch bedingt, einfach schlechter in Mathe?

Auf Grund der PISA-Studien kann diese Frage eindeutig verneint werden. Ein Fachartikel (2018, Stoet, G. und D.C. Geary, The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education), welcher auf den PISA-Zahlen basiert, gibt interessante Hinweise. In zwei von drei Ländern, für welche Zahlen vorliegen, schneiden Mädchen in den MINT-Fächern gleich gut oder besser ab als die Knaben. Trotzdem schreiben sich in allen Ländern weniger Studentinnen in MINT-Fächern ein. Praktisch überall ist die Fähigkeit der Studentinnen, ein MINT-Fach zu wählen, grösser als die Bereitschaft, dies auch zu tun. Wenn wir zwischen den Ländern vergleichen, lassen sich allerdings grosse Unterschiede erkennen im Hinblick auf die Beliebtheit der MINT-Fächer bei Studentinnen. Interessanterweise wählen Frauen dann ein MINT-Fach, wenn die Gesellschaft durch eine grosse Geschlechterungleichheit geprägt ist. Je grösser die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen ist, desto beliebter sind die MINT-Fächer, wenn die Studentinnen die Wahl haben.

Diese Studie belegt: die Untervertretung von Frauen in den MINT-Fächern ist kulturell bedingt. Die Studie führt noch zu einem weiteren Befund. Schon bei der Aufnahme des Studiums schreiben sich viel weniger Studentinnen als Studenten für MINT-Fächer ein. Die Untervertretung ist also schon bei der Studienwahl vorhanden, somit wird ihre Ursache während der obligatorischen Schulstufe gelegt.

Geschlechtliche Identität

In der Mittelstufe, im Alter von 9 bis 12 Jahren, erfahren die Mädchen bedeutende körperliche Veränderungen. In dieser Phase merken die Mädchen, dass sich ihr Körper anders entwickelt als derjenige der gleichaltrigen Knaben und dass dies eine Bedeutung hat. In dieser Phase bewegen sie sich auch vermehrt in Gruppen, welche durch das Geschlecht definiert sind. In den Pausen zwischen den Schulstunden und in der Freizeit bilden sich Mädchen- und Knabengruppen. Das Geschlecht wird ein Faktor für die Identität der Mädchen. Wenn wir davon ausgehen, dass Geschlechterstereotypen nicht in die Wege gelegt, sondern im Verlauf der Entwicklung geprägt werden, dann ist diese Phase der körperlichen Veränderung für die zukünftigen Frauen wahrscheinlich diejenige, welche für diese Prägung am wichtigsten ist.

Welche Rolle spielt in dieser Phase die Lehrerin in der Primarschule? Wahrscheinlich eine grosse, wenn wir der vorherigen Überlegung zustimmen. Für die Schülerinnen ist die Lehrerin diejenige Frau, welche sie, neben ihrer Mutter, wahrscheinlich am meisten und am intensivsten erleben. Lehrpersonen bilden die Schulkinder, und damit prägen sie diese auch. Für die Lehrerin der Mittelstufe gilt, dass diese ihre Schülerinnen nicht nur in fachlicher Hinsicht prägt, sondern über ihre soziale Beziehung auch in sozialer Hinsicht. Weil die Lehrerinnen eine grosse Präsenz hat genau in der Zeit, in welcher beim Mädchen die für ihre geschlechtliche Identität wichtige Entwicklung stattfinden, wird die Lehrerin, unbewusst und ungewollt, zu einem Vorbild für weibliches Verhalten. Wie müssen deshalb davon ausgehen, dass die Lehrerinnen eine wichtige Rolle haben, wenn die Geschlechterstereotypen der Schülerinnen geprägt werden.

Es ist nicht abwegig, anzunehmen, dass viele Lehrerinnen den Lehrberuf gewählt haben, weil sie mehr Freude an sprachlichen und sozialen Fächern hatten als an Mathematik. Wenn in der Folge Lehrerinnen Mathematik mit einer anderen Haltung unterrichten als beispielsweise Sprachfächer, dann wird das von den Schülerinnen wahrgenommen. Der Enthusiasmus beim Lehren eines Stoffs ist Ausdruck der Haltung, welchen man diesem Unterrichtsstoff gegenüber hat. Wenn man ein Fach weniger liebt, dann muss man spezielle Anstrengungen unternehmen, um dieses Fach mit der gleichen Kompetenz unterrichten zu können wie ein Lieblingsfach.

Messbarkeit und Wettbewerb

Die heutigen Lehrmittel haben eine Qualität, die es den Lehrpersonen einfach machen, den Stoff kompetent zu vermitteln, selbst wenn sie das jeweilige Fach in der eigenen Ausbildung wenig schätzten. Mathematik zeichnet sich dadurch aus, dass mathematisches Wissen einen folgerichtigen Aufbau hat. Basis sind Mengen, die natürlichen Zahlen und die Operationen darauf. Daraus ergeben sich Brüche, Dezimalzahlen, Proportionalität, Gleichungen. Auch die Geometrie entwickelt sich aus den grundlegenden Formen (Linien, Flächen, Winkel) in mehrdimensionale Formen. Ein wesentliches Merkmal von Mathematik ist, dass mathematisches Wissen einfach geprüft werden kann. Das Resultat einer mathematischen Aufgabe, ob leicht oder schwierig, ist eindeutig richtig oder falsch. Genau dieses Merkmal wird von den modernen Lehrmitteln eingesetzt. Das offizielle Mathematiklehrmittel hat ein ausgezeichnetes Handbuch mit einleuchtenden Erklärungen und guten Hinweisen. Begleitende Online-Hilfsmittel sind interaktiv und adaptiv gestaltet. Sie prüfen laufend den Wissensstand der Schulkinder. Fällt diese Prüfung erfolgreich aus, werden Stoff und Aufgaben aus der nächsten, anspruchsvolleren Stufe präsentiert. Stellt das Programm fest, dass das Schulkind Probleme mit dem aktuellen Stoff hat, passt es sich an und präsentiert Variationen und Repetitionen, damit Lücken im Verständnis korrigiert werden können. Solche Lehrprogramme helfen den Schülern, den Stoff auf spielerische Weise zu lernen.

Derartige Lehrmittel machen es den Lehrerinnen einfach, den Stoff kompetent zu vermitteln, selbst wenn sie das Fach in der eigenen Ausbildung wenig liebten. Allerdings ist es nicht so, dass die Schülerinnen Probleme beim Lernen des Mathematik-Stoffs haben. Wie die PISA-Zahlen zeigen, sind die Mädchen nach der obligatorischen Schulzeit in Mathematik gleich geübt wie die Knaben. Wenn es der Mehrheit der Studentinnen nicht opportun erscheint, ein MINT-Fach zu belegen, dann ist es das Selbstbild, welches die Mädchen davon abhält und letztlich die Freude an diesem Stoff, welche den Mädchen fehlt.

Was ist der Grund dafür, dass die Mittelstufen-Lehrerinnen versagen, wenn es darum geht, ihre Schülerinnen für Mathematik zu begeistern? Wie oben erwähnt, zeichnen sich Mathematik und die MINT-Fächer generell dadurch aus, dass die fachlichen Fähigkeiten und Leistungen genau gemessen werden können. Wo Leistungen und Fähigkeiten gemessen werden können, so können diese auch verglichen werden. Ein solcher Vergleich führt zu Wettbewerb. Dieser kann mehr oder weniger explizit ausgetragen werden. In jedem Fall gilt: Wer in einem MINT-Fach bestehen will, kann sich nicht belügen, sondern muss sich dem Wettbewerb, dem Leistungsvergleich stellen.

Die Vermutung ist naheliegend, dass viele Lehrerinnen einem solchen Leistungsvergleich und Wettbewerb ablehnend gegenüberstehen. Und ebenso naheliegend ist die Vermutung, dass genau solche Vorbehalte von ihren Schülerinnen übernommen werden.

Welche Rolle hat das Gymnasium auf die Wahl des Studienfachs und die Untervertretung von Studentinnen bei den MINT-Fächern? Natürlich sind die Mathematik-Lehrer im Gymnasium, welche ihren Unterricht häufig mit überholtem Material und veralteten Methoden bestreiten, wenig hilfreich, um Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern. Trotzdem dürfte ihr Einfluss auf die Studienwahl der Schülerinnen vergleichsweise klein sein. Erstens sind die Schülerinnen auf dieser Stufe körperlich und mental in einer anderen Verfassung. Was aber wesentlicher ist: die Mathematik-Lehrer unterrichten ihre Schülerinnen und Schüler deutlich weniger intensiv. Eine Klassenlehrerin auf Primarschulstufe verbringt mindestens fünfmal mehr Stunden mit ihren Schülerinnen und Schülern als ein Fachlehrer auf dem Gymnasium. Entsprechend intensiver ist die soziale Beziehung, welche die Klassenlehrerin mit den Schülerinnen und Schülern eingeht.

Wenn wir in unserer Gesellschaft mehr Frauen in den MINT-Fächern wollen und das nicht bloss als Lippenbekenntnis proklamieren, dann müssen wir den Lehrerinnen den Auftrag erteilen, bei ihren Schülerinnen die Freude an der Mathematik zu wecken. Die Fähigkeiten dazu haben die Frauen. Es ist die Begeisterung für ein MINT-Fach, welche fehlt. Es ist die Freude, sich einem Wettbewerb zu stellen und eindeutig messbare Leistungen zu vergleichen. Schlussendlich ist es eine Frage des Selbstvertrauens.

Wettbewerb und Selbstvertrauen

Es gibt ein anderes Schulfach, in welchem die Leistung eindeutig beurteilt werden kann: der Sportunterricht. Im Falle des Sportunterrichts ist die Auswirkung auf den Frauenanteil auf der Führungsebene noch direkter. Viele Kinder machen auch in ihrer Freizeit Sport. Während allerdings Knaben häufig Mannschaftssportarten (z.B. Fussball) betreiben, machen Mädchen Einzelsportarten (z.B. Gymnastik). Die Lehrpersonen verstärken diese Tendenz, indem die Mädchen beim Turnen an den Geräten unterstützt werden und die Knaben ihre Erfolgserlebnisse bei den Ballsportarten finden können. Das ist falsch. Die körperlichen Veränderungen der Mädchen im Alter von 10 bis 12 Jahren sind oft mit einem Wachstumsschub verbunden. Die Mädchen werden grösser als die gleichaltrigen Knaben und oft auch stärker. Mit diesen Voraussetzungen können die Mädchen auch in Mannschaftssportarten mit Knaben bestehen. Während die Knaben, durch ihre sportlichen Aktivitäten in der Freizeit, vertraut damit sind, den Ball zu erobern und zu halten, zeigen die Mädchen oft ein reflexartiges Abwehrverhalten gegenüber dem Ball. Es ist deshalb wichtig, dass die Mädchen angeleitet werden, wie sie mit einem aggressiveren Verhalten den Ball selbst erobern, kontrollieren und mit einer geplanten Ballabgabe zur Gestaltung des Spiels beitragen können.

Solche Erfahrungen sind wichtig für das Selbstbewusstsein der Mädchen. Sie helfen den Mädchen und später den Frauen, sich auch gegen Männer durchzusetzen. Solche Frauen erobern sich das Ziel, welches sie sich gesetzt haben, wie sie früher den Ball erobert haben. Solche Frauen brauchen keine Quoten, welche ihnen den Weg zu ihrem Ziel frei räumen.

Wenn wir also selbstbewusste und durchsetzungsstarke Frauen wollen, müssen wir entsprechende Lehrerinnen haben. Wir brauchen Lehrerinnen, welche den Schülerinnen nicht nur den Stoff, sondern auch die Freude an Mathematik vermitteln. Diese Lehrerinnen ermöglichen den Schülerinnen Erfolgserlebnisse, welche darin bestehen, dass man messbares Können erarbeitet und dieses Können mit anderen vergleicht. Wir brauchen Lehrerinnen, die genau das auch im Sportunterricht umsetzen. Lehrerinnen, welche den Schülerinnen beibringen, wie sie sich im Kampf um den Ball durchsetzen und damit ihren Beitrag zum Erfolg der Mannschaft zu leisten können.


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