Die manipulative Gesellschaft

24. February 2023, ... alles andere, aktion-hip, No Comments »

Es ist regnerisch und die Spielwiese ist matschig. Die Kinder stehen vor der Tür des Schulhauses. Die Kindergärtnerin beugt sich zu einem der Kinder nieder und erklärt: «Schau, dein Mami hat dir die Regenhose eingepackt. Dann wird dein Mami sicher Freude haben, wenn du die Regenhose jetzt anziehst.» Diese liebevoll erscheinende Szene sagt viel darüber aus, was in unserer Gesellschaft falsch läuft.

Soziale Beziehungen sind Austauschbeziehungen. Personen, welche in Kontakt zueinander treten, haben ihre Interessen. Im Kontakt mit der anderen Person wollen sie möglichst viele ihrer Interessen befriedigen. In einer kooperativen Beziehung werden diese möglicherweise unterschiedlichen Interessen offen verhandelt. Der Austausch zwischen den Personen dauert so lange, wie die beteiligten Personen davon einen Nutzen haben. Wichtig ist, dass die Personen ihre Interessen offenlegen. Transparenz ist die Grundlage von Vertrauen und ohne Vertrauen können die Personen nicht längerfristig kooperieren.

In der eingangs erzählten Episode will das Kind spielen und die Kindergärtnerin will, dass das Kind keinen Schmutz in das Klassenzimmer bringt, wenn es nach der Pause zurück kommt. Ist der Kindergartenraum verschmutzt, muss die Kindergärtnerin diesen später reinigen oder den Abwart anweisen, dies zu tun. Sie hat ein nachvollziehbares Interesse, dem Kind Regenhosen anzuziehen, welche nach der Pause vor dem Zimmer problemlos abgezogen und zum Trocknen aufgehängt werden können. Warum zieht die Kindergärtnerin die Geschichte mir der Mutter zur Hilfe, um ihr Interesse durchzusetzen?

Mit ihrem Vorgehen verstösst die Kindergärtnerin gegen zwei grundlegende Prinzipien eines ehrlichen Austauschs. Erstens nimmt sie das Kind nicht ernst und zweitens versteckt sie ihre eigenen Interessen hinter einer Geschichte, welche die Mutter-Kind-Beziehung zum Thema hat.

Ich nehme eine andere Person ernst, wenn ich ihr eigene Interessen zugestehe und ehrlich interessiert bin, diese zu erfahren. Weiter nehme ich die andere Person ernst, wenn ich ihr zutraue, dass sie meine eigenen Interessen ernstnehmen kann, nachdem ich sie offengelegt habe. Beides gehört zusammen. Unter diesen Bedingungen kann eine soziale Beziehung funktionieren, selbst wenn grosse Unterschiede bezüglich Alter, Erfahrung oder Macht bestehen.

Wenn ich als erwachsene Person mit einem Kind in Beziehung trete, muss ich auf andere Art dessen Interessen nachfragen, als ich das mit einer gleichaltrigen Person mache. Ebenso muss ich auf angemessene Weise meine Absichten klarstellen. Unterschiede in Alter und Verantwortung erfordern, dass ich mich auf angepasste Weise verhalte, aber sie ändern nichts am Gebot der Transparenz.

Wenn sich die Kindergärtnerin zum Kind niederbeugt, spielt sie die grosse Person, welche sich für die kleine Person klein macht. Sie demonstriert genau das: «Ich bin gross, aber für dich mache ich mich klein.» Das mag liebevoll erscheinen, ist aber nicht adäquat. Die Kindergärtnerin nimmt das Kind nicht nur als Kind war, sie macht es zum Kind. Wenn die Kindergärtnerin als Weiteres ihre Absicht mit einer Geschichte erklärt, in welcher die Mutter des Kinds die Hauptrolle spielt, kann das zweierlei bedeuten. Entweder erachtet sie das Kind als unfähig, ihre eigenen Interessen zu verstehen, oder sie hat andere Gründe, diese Interessen vor dem Kind zu verbergen. Sie zieht es stattdessen vor, subtil mit einem Liebesentzug der Mutter zu drohen, um ihre eigene Absicht durchzusetzen.

Das entspricht in keiner Weise dem Verlangen des Kindes. In dieser Situation ist das Kind nicht an einem Theater interessiert. Das Kind will spielen und das möglichst rasch.

Transparenz muss nicht auf unfreundliche Art geschaffen werden. Die Kindergärtnerin muss nicht als Lehrmeister auftreten und mit einem eher herrischen «Ich will, dass du die Regenhose anziehst» ihr Interesse transparent machen. Mit einem einfachen «Komm, ich helfe dir, die Regenhose anzuziehen» kann sie dieselbe Wirkung auf freundliche Art erzielen. Hier würde klar, dass die Kindergärtnerin das Interesse des Kinds wahrgenommen hätte. Ebenso klar würde, welches ihr eigenes Interesse ist und dass sie einen Weg gefunden hätte, diese beiden Interessen in Einklang zu bringen. Der kurze Austausch zwischen Kind und Kindergärtnerin wäre transparent, unabhängig davon, dass zwischen den beteiligten Parteien ein grosser Unterschied bezüglich Alter und Verantwortung besteht.

Was die Kindergärtnerin stattdessen macht, ist folgendes: Sie manipuliert das Kind. Sie will beim Kind ein Verhalten erreichen, welches ihren Interessen entspricht, ohne diese Interessen offenzulegen.

Damit verhindert sie, dass das Kind wichtige Erfahrungen im sozialen Austausch macht. Das Kind lernt nicht, dass es in Ordnung ist, dass Menschen unterschiedliche Interessen haben und diese offen zum Ausdruck bringen. Vor allem lernt es nicht, dass das offene Aushandeln von unterschiedlichen Interessen dazu führt, dass man sich entgegenkommen kann, dass man sich zu kooperativem Verhalten finden kann.

Stattdessen lernt das Kind früh in seinem Leben, wie Manipulation funktioniert und wie man auf diese Weise seine Interessen durchsetzen kann. Die Kindergärtnerin hat dem Kind eine Lektion in der manipulativen Gesellschaft erteilt.


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