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Eine demokratische Lektion

Heute Morgen ist mir beim Aufschlagen der Zeitung als erstes das Bild des rauchenden Parlamentgebäudes in Belgrad und die Schlagzeilen zum Machtwechsel in Jugoslawien ins Auge gestochen. Diese Nachrichten haben mich stark beschäftigt.

Ich bilde mir meine Meinung auf Grund der Lektüre vor allem von Printmedien. Ich konsumiere eine ganze Reihe von Zeitungen und Zeitschriften und ich hoffe, ich tue das mit der notwendigen kritischen Haltung. Mit den mir zur Verfügung stehenden Informationen komme ich zur Meinung, das Milosevic einer der gegenwärtig grössten Schurken ist, ein Verbrecher, der aus absolut eigennützigen Motiven ein ganzes Volk zur Geisel nimmt und ohne mit der Wimper zu zucken unvorstellbares Leid den Menschen auf dem Balkan zugefügt hat.

Dass diese Person viel früher als erwartet, quasi über Nacht abgehalftert ist und sich seiner Machtposition beraubt sieht, freut mich ungemein. Ich kann dieses Gefühl rational nicht erklären. Wie es den Serbinnen und Serben und den anderen Menschen in dieser Region geht, betrifft mich im Alltag in keiner Weise, und dass diktatorische Herrscher ihr Volk kujonieren, ist keine Neuigkeit. Solange mehr als zwei Staatsgrenzen zwischen meinem Lebensraum und dem Wirkungsraum eines Gewaltherrschers liegen, sehe ich mein Leben und meine Zukunft nicht gefährdet. Meine klammheimliche Freude über den Sturz von Milosevic wird wohl etwas mit meinem Gerechtigkeitsempfinden zu tun haben.

Hochinteressant finde ich die Art und Weise, wie der Machtwechsel in Serbien zustande gekommen ist. Im Frühling hat das jugoslawische Parlament in einer von Milosevic orchestrierten Nacht- und Nebel-Aktion die Präsidentschaftswahlen für den Herbst angesetzt. Die Regierung von Montenegro hat gegen dieses Vorgehen protestiert und angekündigt, diese Wahlen zu boykottieren. Wie die ausländischen Kommentatoren war sie der Meinung, dass mit solch kurzfristig anberaumten Wahlen die Opposition keine Chance habe. Das Kalkül von Milosevic, sich gefahrlos eine demokratische Legitimation verschaffen zu können, schien aufzugehen. Die Opposition war wie gewohnt heillos zerstritten und konnte sich nicht auf einen Herausforderer einigen. Doch die Realität hat Milosevics Planung ein Schnippchen geschlagen. Mit dem vermeintlich bravourösen Trick hat sich Milosevic nun sein eigenes Grab geschaufelt.

Zweierlei finde ich an dieser Geschichte bemerkenswert. Erstens hat sich Milosevic bemüssigt gefühlt, sich zur Wahl zu stellen. Zweitens besteht ein krasses Missverhältnis zwischen der Macht, die nun die Hände gewechselt hat, und der Macht, welche mit dem zur Wahl gestandenen Amt verknüpft ist.

Meine Eindrücke aus dieser Episode sind, dass in dieser globalisierten Welt ein Systemwettbewerb tatsächlich stattfindet. Auch ein Diktator muss sich von Zeit zu Zeit ein demokratisches Mäntelchen verschaffen. Wahlen sind für jede Gesellschaft eine teure Angelegenheit. Je grösser die Distanz zwischen Herrschaft und Volk ist, desto kostspieliger wird die Manipulation solcher Wahlen. Liegt zusätzlich noch die Wirtschaft am Boden, so kann es kommen, dass es schlussendlich genau solche demokratische Wahlen sind, welche einer Diktatur das Ende bereiten.

„Wer seine Stimme abgibt, hat keine mehr!“ haben wir früher über die demokratischen Rechte gespottet, und „Wenn die Demokratie etwas taugen würde, wäre sie von den Mächtigen schon längst abgeschafft worden!“. Die Geschichte in Serbien ist ein hervorragendes Beispiel, wie wertvoll die demokratische Idee für eine Gesellschaft sein kann.■

Benno Luthiger (1. Oktober 2000)